Global Bass Online April 2001
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RON
CARTER
... mit nichts als seinem Bass Als
mich Warren Murchie von Global Bass informierte, dass er mein neuliches
Interview mit dem grossartigen Ron Carter arrangiert habe, war meine erste
Reaktion – ANGST. Ron, ohne Zweifel einer der einflussreichsten Bassisten der
Welt, hat schon so viele Interviews gegeben waehrend seiner langen Karriere. Ich
musste es ja wissen, hatte ich doch alle gelesen. Ich machte mir Sorgen, er
koennte desinteressiert sein und lakonische Antworten geben. Ich versicherte
Warren, dass ich mich von der Herausforderung
befluegeln lassen und eine Geschichte ueber Ron schreiben wuerde wie keine
andere zuvor. Ich kam zum Schluss, dass es ein Liebesdienst sein wuerde, ueber
einen Mann zu schreiben, der fuer tausende Musiker auf der ganzen Welt eine
Ikone ist – mit dem Autor zuoberst auf der Fanliste. Mehr
denn je glaube ich, dass jeder Mensch seine Bestimmung hat, und alle Dinge, gut
und boese, aus einem Grund passieren. Wie anders ist es zu erklaeren, dass Ron
eines Tages den Bass in die Hand nahm... und damit die Welt veraendert hat! War
es Schicksal, dass er Miles Davis kennenlernte und Teil des illustren Quintetts
wurde, das uns die meistgefeierte und geliebte Musik unserer Zeit gab? Wie
anders ist es zu erklaeren, dass Miles Davis seine Musiker fuer die Aufnahmen
zusammenbrachte, alles so perfekt geschah, als haette es einfach so sein muessen
– sogar bis zum Studio, das sie gewaehlt hatten. Rudi Van Gelder’s Studio,
eingenistet an einem unbekannten Ort in Englewood, New Jersey, wurde zu dem Ort,
wo die revolutionaere Musik fuer alle Zeiten dokumentiert und in unsere Herzen
und Seelen eingegangen ist. Es war fuer mich Schicksal, das mich zu diesem
Interview mit dem Mann gefuert hat, den ich schon seit so vielen Jahre bewundert
hatte. Waehrend
ich diesen Artikel schreibe, murmelt im Hintergrund jemand ueber das neue
kontroverse Madonna-Video, dass zu gewalttaetig ist, um im Fernseher gezeigt zu
werden. Darauf angesprochen, antwortet Madonna, dass der Zweck des Videos sei,
„Fragen aufzuwerfen und einen Dialog auszuloesen“. Ron Carter tritt dem nur mit dem revolutionaeren Klang seines
Basses bewaffnet gegenueber. Als ich vier Jahre alt wurde, fuerte mich mein
Vater (ein Trompeter, der mit Tito Puente auf Welttournee war) in die
Musikwelten von Miles, Tito und Freddie Hubbard ein. Die Musik alleine warf die
Fragen auf, und das Gespraech kam automatisch auf ueber wahre Kunst und den
unverwechselbaren Stil eines brillianten Musikers. Ich erinnere mich noch genau,
wie ich auf ein Foto von Ron Carter auf der Rueckseite seiner LP Peg Leg starrte,
die mein Vater zuhause rumliegen hatte. Mit seiner Pfeife und dem Bart sah Ron
so wuerdevoll aus, fast wie ein Professor. Und genau das ist er ja fuer so viele.
Ron’s Spiel auf der Platte war tatsaechlich sehr lehrreich – es war
exzellenter Ron Carter Stil. Es war ein Elementarwerk in modernem Kontrabass-Spiel.
Die Quinten, erhoehten Sexten, die funkigen Betonungen, der Piccolo-Bass, der
knurrige Ton und das tiefe C (dank Ron’s Griffbrett-Verlaengerung), all das
konnte ich hoeren, heraushoeren und daraus lernen. Ich erinnere mich noch
lebhaft daran, wie ich als Teenager Freddie Hubbard’s grossartiges Album Polar
AC (von Creed Taylor produziert) hoerte. Ron haute mich aus den Socken mit
seinem Eroeffnungs-Riff auf dem Titellied, wie er stilvoll die Ueberleitung vom
D zum Dsus Akkord betonte. Naturally war das erste Lied auf der 2. Seite der
Platte, und war vom Grammy Award Gewinner Don Sebesky arrangiert. Ron's Bass
toente wunderbar, und als er diese tiefen C’s auf der Griffbrett-Verlaengerung
gegen Ende der Strophe spielte, wusste ich, dass ich etwas Spezielles hoerte.
Kann mir da jemand einen inspirierenderen Dialog bieten? In Wahrheit sind wir alle privilegiert, die wir uns von Ron Carter
inspirieren lassen koennen, aber wer inspirierte Ron? Ich fragte ihn, ob es
damals bestimmte Bassisten gab, die er sich in seinen Anfaengen anhoerte. Er
antwortete: „Generell nicht, nein. Ich hoerte mir J.J. Johnson und (den
Bariton-Saxofonisten) Cecil Payne an. J.J. war ein Posaunist, der aus diesem
Instrument andere Toene herausholen konnte als nur von einem Ton in den
naechsten zu gleiten. Cecil Payne tauchte damals auf, als Leute wie Gerry
Mulligan und Harry Carney alle denselben Standardsound spielten. Offensichtlich hat Ron die Grundbegriffe der Entwicklung eines
persoenlichen Klangs und Stils von JJ und Cecil Payne gelernt. Das ist
vielleicht eine der wichtigsten Lektionen, die man von Ron lernen kann. Es ist
kritisch, seinen eigenen Stil zu entwickeln, egal auf welchem Instrument. Lass
Dich vom Zuhoeren bei anderen inspirieren, aber plagiere nicht. Sei innovativ
statt zu imitieren! Das ist die einzige Moeglichkeit, um laengerfristig Bestand
zu haben. Ron
hat eine nagelneue CD herausgegeben, „When Skies are Grey“. Es ist eine
super, latin-angehauchte Sammlung von Musik, die in Ron’s meisterlichem Bass
verankert ist. Gemaess Ron hat der Arrangeur Bob Freedman eine wichtige Rolle
gespielt beim kompakten, fokussierten Klang der CD. Ron arbeitet seit Mitte der
70er mit Freedman (er war der Arrangeur vom „Peg Leg“ Album in 1977) „Er
ist ein wunderbarer Arrangeur“, bestaetigt Ron, „er hat mit Lena Horne und
Harry Belafonte gearbeitet, einfach ein wundervoller Arrangeur. Ich mag die Art,
wie er schreibt. Ich mag die Art, wie er arbeitet. Ich mag was er macht“.
Wie
bei allen wahren Neuerern war Ron’s Gedanke bei When Skies Are Grey nicht, mit
den grossen Latin-Bands von heute zu konkurrieren oder sie zu kopieren. „Ich
wollte nicht Leute wie Tito Puente nachmachen, denn die koennen das viel besser
in den grossen Bands als ich das mit meinem Quartett tun koennte. Ich wollte
ihre Anwesenheit in der Jazzszene bestaetigen, und wollte, dass die Leute nach
Hause gehen mit dem Gefuehl, dass man auch ohne drei Geigen, fuenf Trompeten,
(und) sechs Perkussionisten Latin-Beats spielen kann“. Perkussionist Steve Kroon, Pianist Stephen Scott und Schlagzeuger Harvey
Mason haben alle ihren eigenen Stil und Klang dazu beigetragen, um aus dieser
Platte ein wundervolles Werk zu machen. Ich war ueberrascht, Harvey Mason auf
dieser CD zu finden (ich dachte, er waere primaer ein Funk-/R&B-Schlagzeuger).
Als ich dies Ron mitteilte, antwortete er: „Ich hoere diesen Kommentar oft,
dass die Leute ueberrascht sind, Harvey in einer Jazzformation zu sehen, und das
ueberrascht mich, weil ich ihn immer als Jazz-Schlagzeuger gekannt habe. Ich
kenne ihn nicht von all dieser Musik, die jedermann sonst mit ihm zu assoziieren
scheint.“ Alles Material auf When Skies Are Grey
ist stark, und die musikalischen Darbietungen galaktisch. Vom ersten Lied Loose
Change an ist der Ron Carter Touch fuehlbar. Ron legt den Intro-Groove, wie es
nur Ron kann, mit Dur-Quinten, die er harmonisch in die Basslinien einfuegt.
Besame Mucho ist das zweite Stueck auf der CD, aber bevor Du an Julio Iglesias
denkst, denk nochmal nach. Das Arrangement von Bob Freedman ist wirklich frisch
und hip. Meine Lieblingslieder sind Corcovado (das von Antonio Carlos Jobim
geschrieben wurde) und Mi Tiempo, eine Komposition von Ron Carter. Auf Corcovado
spielt Ron die Melodie, und Stephen Scott verschoenert das Ganze mit netten
Akkord-Stimmfuehrungen. Mi Tiempo ist eine Ron Carter – Extravaganz, in der
Ron der Katalysator fuer die grossartige Wechselwirkung zwischen Steve Kroon und
Harvey Mason ist. Alles in allem ... ein gelungenes Werk. Wie diejenigen unter Euch wissen, die
seine Karriere verfolgt haben, war Ron immer ein Innovator betreffend Klang. Er
war der erste Bassist, der diesen knurrenden Ton auf den Kontrabass brachte. Ich
lauschte aktiv auf jeden Aspekt von When Skies Are Grey und bemerkte, dass
Ron’s Ton etwas runder und waermer wurde auf diesem Album. Ich fragte mich, ob
er etwas anders gemacht hatte diesmal bei den Aufnahmen. Ron antwortete: „Wie
Du weisst, sind viele Sachen nicht unter Deiner Kontrolle, wenn Du eine Platte
aufnimmst. Da gibt es viele Prozesse, die nach den Aufnahmen noch durchgefuehrt
werden und den Klang beeinflussen. Es gibt etwa sechs verschiedene Prozesse im
Studio, und manchmal treffen es die Ingenieure richtig, und manchmal nicht. Der
Bass toent jeden Tag anders, meine Hand fuehlt sich anders, aber soweit es den
Klang auf der neuen CD betrifft, habe ich nichts bewusst getan.“ Im Studio
benuetzt Ron niemals einen Amplifier, wenn er seine Spuren einspielt. Kritisch
fuer seinen wunderbaren Klang sind seine Haende. Wie jeder weiss, sind sie das A
und O fuer einen tollen Bassklang. Aber im Detail nimmt Ron seinen Bass mit
einem Neumann Mikrofon ab. Das Instrument, das Ron benutzt, ist dasjenige, auf
dem er seit 1959 spielt. Sein Bass ist ein Juzek, „dessen Teile in der
Tschechoslowakei hergestellt wurden, und der in Deutschland zusammengebaut wurde,
noch bevor Deutschland in Ost und West unterteilt wurde, so ca. um 1910. Ich
habe eine Griffbrett-Verlaengerung, die ich etwa in den Siebzigern drangebaut
habe, wahrscheinlich die erste Verlaengerung dieser Art, die jetzt im Jazz zum
Standard wurde. Ich spiele LaBella 7710er, eine schwarze nylonumwickelte
Stahlkernsaite, die ich seit den letzten 12 Jahren benuetze, und einen David
Gage (The Realist) Bass-Tonabnehmer.“ Fuer einen Blick in die Zukunft wollte ich Ron’s Meinung zu Rap und
HipHop Musik wissen. Da die Musikindustrie ein so riesiger Schmelztiegel
geworden ist, habe ich mich gefragt, ob da eine Moeglichkeit fuer einen Hip Hop
Anstrich in Ron Carters zukuenftigen musikalischen Gaben waere. „Bei vielen
dieser Rap-Sachen ist die Sprache ziemlich derb fuer Leute meiner Generation.
Ich schaetze einige der Worte und Gedanken nicht besonders. Wenn einige dieser
Rapper wirklich Poeten werden wollten wie sie behaupten, wuerden sie mit Leuten
zusammen live spielen, um die Musik wirklich zu beeinflussen.“
Ron meint weiter, dass „A Tribe called Quest und Dr. Dre die Jazz-Koenner
kennen, sie haben es nur nicht fuer noetig befunden, sie in ihre Musik
einzuschliessen, speziell live.“ Eines ist aber sicher, obwohl ich im Moment
keine Hip Hop CD’s besitze, falls Dr. Dre fuer ein kuenftiges Projekt Ron
engagieren wuerde, hat er mein Wort, dass ich die Platte kaufen werde! Zu Eurer Information; Ron ist ein diplomierter Berufsmusiker, mit
Diplomen von der Eastman School of Music und einem Meisterdiplom von der
Manhattan School of Music. Ron lehrt seit fast zwei Jahrzehnten Musik am City
College von New York. „Ich habe Vollzeit unterrichtet waehrend der letzten 19
Jahre, am CNY, City College of New York, an der 138sten (Strasse) und Convent
Avenue (212-650-5411). Ich lehre vier Ensembles und sieben Bass-Studenten.“
Danach gefragt, ob er einen besonderen Schuetzling unter seine Fittiche genommen
hat, meint er: „Sie sind alle vielversprechend. Was sie aus sich machen wenn
sie hier rauskommen, ist eine andere Geschichte, aber sie sind alle
vielversprechend.“ In diesen Zeiten von Uebertreibung und Hysterie ist es einfach, einen
neuen „Star“ zu finden, aber immer schwieriger, gute Musik zu finden. Wir
haben Spiele-Shows, in denen huebsche Gesichter Plattenvertraege gewinnen, ohne
dafuer Lehrgeld bezahlen zu muessen – Lehrgeld, das jeder wahre Musiker
bezahlen muss, um eine hoehere Stufe zu erreichen. Ron Carter hat sein Lehrgeld
bezahlt und auch die schlimmsten Zeiten erlebt und ueberlebt. Er ist ein
Musterbeispiel fuer alle – schwarz, weiss, was immer fuer einer ethnischen
Zugehoerigkeit. Er ist der positive Beweis, dass es moeglich ist, von der Musik
zu leben, ohne seine Seele zu verkaufen, sich „auszuverkaufen“ oder zu
versuchen, den Geschmack des Monats zu kopieren wie die Hundertschaften von
Bands, mit denen wir in letzter Zeit ueberschwemmt wurden.
Nichtsdestotrotz muss erwaehnt werden,
dass das Musikgeschaeft auch seinen Preis hat. Eine persoenliche Anmerkung des
Autors; im Zuge davon „es zu schaffen“ in der Musikbranche, habe ich selber
viel von der Musik und den Musikern kopiert, die mir damals so wichtig waren,
als junger, optimistischer Anfaenger. Der Versuch, sich selber einen Namen zu
machen und in der gnadenlosen New Yorker Musikszene zu arbeiten, kann
erschuetternd sein. Ron’s neue CD zu hoeren, brachte all die wundersame
musikalische Energie zurueck, die einst in mir bluehte. Ron ist immer noch hier,
jetzt, inspirierend und erleuchtend und darum muss ich sagen: „Danke schoen,
Ron.“ Wenn es Dir ernst ist, empfehle ich
Dir sehr, When Skies Are Grey zu kaufen. Du wirst den meistverehrten noch
lebenden Jazzbassisten hoeren – den einen und einzigartigen Ron Carter. Mach
es zu Deiner Berufung, von ihm zu lernen, das wird Dein Leben sicher bereichern. Traurigerweise ist Ron’s Frau eine
Woche vor den Aufnahmen zu When Skies Are Grey gestorben. Ich wollte zum
Zeitpunkt des Interviews nicht mit Ron darueber sprechen, aber ich finde es
wichtig, dass die Leser von Global Bass Ron ihr waermstes Mitgefuehl
entgegenbringen. Ron, der vollkommene Profi,
musste seine Trauer beiseiteschieben und ins Studio gehen, um Musik zu machen.
Meine tiefsten Kondolationen an Ron und seine gesamte Familie. Ich moechte mich bedanken bei Ron Carter, Cem Kurosman, Marty Straub und, am meisten von allen, Warren Murchie dafuer, dass er mir diese grosse Ehre zuteil kommen liess. Tony Senatore, 22. Maerz 2001
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